Trotz der inzwischen mehr als zwei Jahre andauernden Corona-Pandemie sind die Auswirkungen einer COVID-Infektion noch immer schwer abzuschätzen. Während es zu Beginn vor allem um die Bekämpfung der akuten Infektion ging, zeigte sich nach kurzer Zeit, dass einige körperliche und psychische Beeinträchtigungen auch noch lange danach auftreten können: das sogenannte „Post“- oder „Long-COVID“-Syndrom. Was sich dahinter verbirgt, erklärt Dr. Rüdiger Leipold, Leitender Oberarzt der Intensivmedizin der GRN-Klinik Eberbach.
Was bedeutet Post- bzw. Long-COVID?
Dr. Leipold: Wie so oft, wenn ein noch unbekanntes Phänomen in einem medizinischen Fachgebiet erforscht wird, wird zunächst eine Vielzahl von neuen Begriffen zu diesem Thema geprägt, die oft parallel verwendet werden, bis eine fachgesellschaftliche Leitlinie für Einheitlichkeit sorgt. So auch hier: Der Begriff „Long COVID“ beschreibt ursprünglich Symptome, die jenseits der akuten Krankheitsphase von vier Wochen fortbestehen oder neu auftreten.
Als „Post-COVID-Syndrom“ (PCS) werden in der eigentlichen Verwendung Beschwerden bezeichnet, die noch drei Monate nach Beginn der COVID-Infektion vorhanden sind und nicht anderweitig erklärt werden können. Nach der aktuellen deutschen S1-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften werden die Begriffe im derzeitigen Sprachgebrauch inzwischen aber parallel verwendet.
Was ist die Ursache dieses Syndroms?
Dr. Leipold: Die eigentliche Krankheitsursache von Long/Post-COVID ist bislang noch nicht ausreichend aufgeklärt. Zu den möglichen Auslösern, die derzeit erforscht werden, gehören nach Ende des eigentlichen Infektionsgeschehens anhaltende Immun- und Autoimmunreaktionen. Das fortbestehende Verbleiben von Viren und Virusbestandteilen im Körper wird untersucht, dauerhafte Gefäßveränderungen und mögliche psychosomatische Komponenten sind nicht ausgeschlossen. Die Ursachenforschung läuft hierbei auf Hochdruck: Die rasche Identifikation der Krankheitsmechanismen ist essentiell für Diagnostik und Therapie dieses Syndroms.
Wie äußert sich PCS?
Dr. Leipold: Bei PCS handelt es sich um einen komplexen Krankheitszustand, der die Lebensqualität der Betroffenen über lange Zeit erheblich einschränken kann. Die unter dem Syndrom vereinten Symptome sind vielfältig: Sehr häufig leiden Betroffene unter dauerhafter Kurzatmigkeit und rascher Erschöpfung. Viele Patienten berichten über plötzlich auftretende, tagelang anhaltende Erschöpfungszustände nach ganz normaler, alltäglicher körperlicher Aktivität. Sie beschreiben den Zustand mitunter als Kombination der Symptome von Grippe und Jetlag, gepaart mit Kopf- und Gliederschmerzen. Aber auch weniger COVID-typisch erscheinende Symptome wie anhaltend trockene Schleimhäute und wiederkehrende Brust-, Kopf- und Muskelschmerzen werden beklagt.
Daneben fallen Erkrankungsmuster aus dem neurologischen Bereich wiederholt auf. Die Art der Beschwerden beginnt bei kognitiver Beeinträchtigung und Konzentrationsschwäche – umgangssprachlich oft als „brain fog" bezeichnet. Dieser geht einher mit verminderter Aufmerksamkeit und herabgesetzter Gedächtnisfunktion und reicht bis hin zu Angstzuständen und Depressionen.
Nicht nur die verschiedenen Ausprägungen, sondern auch die bisher beobachtete Dauer der PCS-Beschwerden sind sehr vielfältig. Die Spannbreite reicht von den unmittelbaren Nachwirkungen der Akutinfektion für einige Wochen bis hin zu langwierigen, teils wohl irreversiblen Folgeschäden.
Wie oft kommt dieses Syndrom bei Corona-Infizierten vor?
Dr. Leipold: Der tatsächliche Anteil der Erkrankten, die ein PCS entwickeln, ist noch unklar; die meist unspezifischen, neu auftretenden Beschwerden werden oft nicht auf die vorangegangene Infektion zurückgeführt. Man muss von einer hohen Dunkelziffer ausgehen.
Große epidemiologische Studien zeigen, dass nach einem schweren intensivpflichtigen Verlauf eine Mehrheit der Patienten mit Langzeitkomplikationen rechnen muss. Nach einem milden Krankheitsverlauf erfüllen bis zu zehn Prozent der Betroffenen die Kriterien für ein PCS. Dies ist auch von anderen Viruserkrankungen schon bekannt, z.B. nach einer Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus, der zu Pfeiffer’schem Drüsenfieber führt.
Auch bei Kindern scheint PCS zunehmend eine Rolle zu spielen. Eine realistische Einschätzung zur Krankheitslast durch das "pädiatrische PCS" war aufgrund der bislang nur spärlich verfügbaren Daten nicht einfach. Eine große Untersuchung zu diesem Thema wurde allerdings jetzt gerade im Juni veröffentlicht: Diese Studie hat 40000 dänische Kinder eingeschlossen. Die Kollegen dort fanden tatsächlich in allen Altersgruppen entsprechende Symptomkomplexe, die sich offenbar auch bei den Kleinsten über Wochen hinziehen.
Gibt es Risikofaktoren, die das Post-COVID-Syndrom bedingen?
Dr. Leipold: Das Interesse an Forschungsergebnissen zu PCS ist hoch, aber die Erkenntnisse stecken naturgemäß noch in den Anfängen. Man unterscheidet allerdings bereits zwei unterschiedliche Gruppen: Betroffene mit Folgeerkrankungen nach schwerem, teilweise intensivpflichtigem COVID-19 Verlauf sind meist älter als 60 Jahre. Oft sind sie vorerkrankt, tendenziell handelt es sich eher um Männer. Nach einem milden oder moderaten COVID-19-Verlauf ohne Krankenhausaufenthalt entwickeln meist jüngere Menschen unter 60 Jahren und überwiegend Frauen – im Verhältnis 2:1 – langanhaltende Symptome.
Wie kann PCS diagnostiziert und therapiert werden?
Dr. Leipold: Bisher stehen keine spezifischen Laboruntersuchungen zur Verfügung, die ein PCS unzweifelhaft nachweisen können. Für eine Diagnosestellung muss der Arzt also eine Vielzahl anderer Krankheiten als Ursache der vorliegenden Beschwerden ausschließen – ein oft schwieriger, zeitaufwendiger und auch kostenintensiver Prozess.
Die Vielzahl der möglichen Ausprägungen erschwert die Diagnosestellung. Die Behandlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten gestalten sich dementsprechend unterschiedlich. Die Bandbreite von Fachrichtungen, die sich der Versorgung von Betroffenen mit Post-COVID-Syndrom widmen, ist daher groß: Lungenheilkunde, Kardiologie und Neurologie sind hier vorrangig zu nennen.
Der erste Ansprechpartner bei Symptomen eines PCS ist normalerweise der Hausarzt, der die Hauptbeschwerden auch meist selbst behandeln kann. Gemäß seiner Lotsenfunktion kann er den Patienten bei Bedarf zum entsprechenden Facharzt weiterleiten. Die GRN-Klinik Eberbach ist mit der Abteilung für Innere Medizin und der Schmerzambulanz für niedergelassenen Kollegen ein zuverlässiger Ansprechpartner; zudem besteht die Möglichkeit der Kooperation mit der Long-COVID-Ambulanz im Universitätsklinikum Heidelberg.
Hilft die COVID-Impfung gegen Long/Post-COVID?
Dr. Leipold: Dass die COVID-19-Impfung das Risiko von PCS deutlich herabsetzt, gilt inzwischen als gesichert; allerdings gibt es auch vereinzelte Berichte von Long/Post-COVID-ähnlichen Symptomen nach einer COVID-19-Impfung.
Bereits PCS-betroffene Patienten wiederum können problemlos gemäß der STIKO-Empfehlung geimpft werden; hier wiederum gibt es Einzelberichte, die auf eine Symptomverbesserung nach Impfung schließen lassen.