GRNplus August / 2020
40 Nicht nur die Pest, sondern auch andere Infektionskrankheiten verunsicherten die Menschen des Mittelalters. Dies waren vor allem die sichtbaren, offen nach außen brechenden Krank- heiten. „Aussatz“ ist die Bezeichnung all dieser Gebrechen, die nicht nur Angst unter den Gesunden verbreiteten, sondern auch zur „Aussetzung“ der Betroffenen führte. Eine der Aussatzkrankheiten, die im 12. und 13. Jahrhundert wohl am meisten verbreitet war, ist die Lepra. Bei der Lepra, die noch heute in einer Reihe armer Länder in den Tropen und Subtropen existiert, handelt es sich um eine chronische Infektionskrankheit, die mit auffälligen Veränderungen an Haut, Schleimhäuten, Nervengewebe und Knochen einhergeht. Den ersten Erregernachweis erbrachte 1873 der Norweger Gerhard Armauer Hansen, nach dem die Krankheit auch als „Morbus Hansen“ oder „Hansen-Krankheit“ bezeichnet wird. Ihre bedauernswerten Opfer mussten als Unberührbare Signal- hörner, Schellen oder Klappern als Krankheitszeichen und Warninstrumente tragen, sodass man sie erkennen und meiden konnte. Die gesellschaftliche Isolierung Aussätziger wurde durch deren Unterbringung in Leprosorien besiegelt. Solche Prof. Dr. Wolfgang U. Eckart ist emeritierter Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Für GRNplus beleuchtet er einige Meilensteine der Medizin etwas genauer. Dieses Mal geht es um Lepra im Mittelalter. Häuser lagen – anders als die christli- chen Hospitäler – außerhalb der Mauern fast jeder Stadt. In Frankreich sind für das 13. Jahrhundert mehr als 2000 Leprosorien belegt. Die Lepraschau Dieses Verfahren war der Aufnahme in ein Leprosenhaus seit dem 13. Jahrhundert als besonderes Krankheitsfeststellungs- verfahren vorangestellt, das von einer Kommission aus Ärzten und Scherern durchgeführt wurde. Die Kommission reagierte auf eine Lepraanzeige, die von jedermann erstattet werden konnte, und zitierte dann die Beschuldigten zu sich. Ergab die Lepraschau, deren Kosten die Verdächtigen selbst zu tragen hatten, den begründetenVerdacht einer Erkrankung, so erfolgte die Verurteilung zur Absonderung in ein Leprahaus. Ergaben sich nur schwache Anhaltspunkte, so konnte eine Wiedervor- stellung verfügt werden. Verlief die Untersuchung negativ, so lautete der Befund „rein“, „schön“ oder „unschuldig“, und die Kommission plädierte für Freispruch. Das Urteil selbst wurde in einem beurkundeten Schaubrief niedergelegt, der beim Eintritt in ein Leprosenhaus vorgewiesen werden musste. Diese Regelung war wichtig, denn als im Spätmittelalter die Inzidenz der Lepra allmählich abnahm, versuchte mittelloses Volk, sich widerrechtlich in die Leprosorien einzuschmuggeln, die ja Schutz und soziale Absicherung boten. Aufnahmesuchenden ohne Lepraschaubrief blieben die Anstaltstore verschlossen. Zentren der Lepraschau im deutschsprachigen Raum waren am Ende des 14. Jahrhunderts vor allem Konstanz und Köln. Dorthin hatten Lepraverdächtige über weite Strecken zu reisen, und von dort wurden sie nach erfolgter Verurteilung in ihre lokalen Leprosorien zurückverwiesen. Dort hatte ein Lepröser den Rechtsstatus eines „lebenden Toten“ und war damit auch von fast allen irdischen Rechtsgeschäften ausgeschlossen. Warum die Krankheit seit dem Ende des 14. Jahrhunderts kontinuierlich zurückging, lässt sich nicht mehr klären. Es ist jedoch anzunehmen, dass dieser Rückgang mehrere Ursachen hatte, unter denen die wichtigste vermutlich die Pest war, die selbstverständlich auch in den Leprosorien ihren Tribut forderte. Eine wichtige Rolle dürfte auch das rigorose Vorgehen gegen die Krankheit gespielt haben. Im 17. Jahr- hundert ist die Lepra als Seuche in Zentraleuropa praktisch erloschen, wenngleich Lepra und Leprosorien vielerorts bis ins 20. Jahrhundert weiter existierten. Meilensteine der Medizin Schon im Leben wie gestorben „Jesus und die 10 Aussätzigen“, Inkunabel-Holzschnitt, Zwolle 1499 Foto: Bildarchiv InstGeschMed HD
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