GRNplus Dezember / 2023

23 Gendermedizin ist ein Bereich der Medizin, der zunehmend an Bedeutung gewinnt. Eine gendersensible Perspektive auf die Krankheiten, ihre Symptome und Therapie ist keineswegs selbstverständlich. Seit dem 19. Jahrhundert gilt der männliche Körper als Modell in der Medizin, der weibliche Körper allenfalls als Abweichung. Für Frauen entstand zwar eine eigene Disziplin, die sogenannte Frauenheilkunde, später als Gynäkologie bezeichnet, die sich jedoch ganz auf den weiblichen Körper als Reproduktionskörper konzentrierte. In den übrigen Disziplinen waren die gesundheitlichen Belange und spezifischen Bedingungen der Entstehung von Krankheiten bei Frauen nicht von Belang. Es ist der Frauengesundheitsbewegung zu verdanken, die seit den 1970er-Jahren eine gendersensible Perspektive in der Medizin gefordert hat, dass sich heute im Zuge der Entwicklung der personalisierten Medizin die Perspektive auf die geschlechtsspezifische Dimension von Krankheiten zunehmend etabliert. 1977 gründeten 25 Frauen das erste Feministische Frauen Gesundheits Zentrum (FFGZ) in Berlin. Sie verstanden sich als Teil der internationalen „Women’s Health Movement“, die 1972 ihren Ausgang in Los Angeles genommen hatte. Die Frauengesundheitszentren, die sich in den darauffolgenden Jahren in vielen deutschen Städten gründeten, waren Teil der westdeutschen Neuen Frauenbewegung. Der „Körper“ stand im Zentrum des feministischen politischen Kampfs für Gleichstellung. Ausgangspunkt war der Kampf gegen den §218 des Strafgesetzbuches, der den Schwangerschaftsabbruch, von medizinischen Indikationen abgesehen, unter Strafe stellte. Mit dem Slogan „Mein Bauch gehört mir“ protestierten Feministinnen für ihr Selbstbestimmungsrecht und konnten breit mobilisieren. Aktivistinnen der Frauengesundheitsbewegung beklagten die Entfremdung vom eigenen Körper durch die Medizin. Selbstuntersuchungen mit einem Plastikspekulum, einem Handspiegel und einer Taschenlampe führten sie durch, die als „Schambereich“ bezeichneten Genitalien sollten enttabuisiert werden. Insgesamt wollten Feministinnen Frauen in die Lage versetzen, sich eigenständig Wissen über ihren Körper anzueignen, um so selbstbestimmter über Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch und gynäkologische Therapien entscheiden zu können. Zunächst erarbeiteten die Aktivistinnen in den Frauengesundheitszentren Informationsbroschüren zu frauenheilkundlichen Fragen. 1978 fand der Fischer-Taschenbuch-Verlag ein Frauenkollektiv zur Übersetzung des erfolgreichen Aufklärungsbuches „Our Bodies, Ourselves“ aus den USA. In dem viele Seiten umfassenden Frauengesundheitsbuch finden sich ein umfassendes Wissen zum weiblichen Körper und zu weiblicher Sexualität. Die deutschen Bände basierten zwar auf dem ursprünglichen Text, wurden aber zum Beispiel mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch angereichert, das in der BRD eine größere Rolle spielte als in den USA. In der DDR war bereits 1972 eine Fristenlösung und somit das Recht jeder Frau auf einen fachgerechten Schwangerschaftsabbruch gesetzlich festgelegt worden. Auch im Bereich der psychischen Gesundheit entstanden in den 1970er-Jahren feministische Therapiezentren und Beratungsstellen: Feministische Therapie legte eine frauenparteiische Haltung zugrunde und beurteilte psychische Krisen ihrer Klientinnen im Kontext frauendiskriminierender gesellschaftlicher Strukturen. Vieles von dem, was die Frauengesundheitsbewegung seit den 1970er-Jahren gefordert und in die Diskussion um Frauengesundheit eingebracht hat, ist heute in die ärztliche Praxis eingegangen. Literatur zum Weiterlesen: Jessica Bock: Feministische Ratgeber zur Selbsthilfe: www.digitales-deutsches- frauenarchiv.de/angebote/dossiers/ 218-und-die-frauenbewegung/ feministische-ratgeber-zur-selbsthilfe Heinemann, Isabel: Frauen und ihre Körper: Reproduktives Entscheiden in den Ratgebern der US-amerikanischen und westdeutschen Frauengesundheitsbewegungen. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Bd. 69 (2021) Heft 2, S. 125-137. Prof. Dr. phil. Karen Nolte leitet das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, das sich nicht nur mit der Historie, sondern auch mit der Gegenwart beschäftigt. Den Lesern von GRNplus gibt sie regelmäßig Einblick in die Medizingeschichte. Medizingeschichte Geschichte der Frauengesundheitsbewegung in Westdeutschland Ein Plastikspekulum zur Selbst- untersuchung Foto: Karen Nolte Foto: Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

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