GRNplus Oktober / 2019
33 Als zwischen den Jahren 1347 bis 1352 die zweite große Pestwelle der westlichen Menschheitsgeschichte Kleinasien und Europa überrollte, gab es keine konkreten Vorstellungen mehr von der Justinianischen Pest des 6. Jahrhunderts. Sie traf daher die mitteleuropäische Bevölkerung unvermittelt und mit großer Tödlichkeit als göttliche Strafe im Gewand einer großen neuen Krankheit inmitten einer historischen Epoche, die ohnehin durch vielerlei Krisen – klimatische, agrarische und politische – gekennzeichnet war. MitwelcherWucht nundiePestzüge inderMittedes14. Jahrhun- derts – gedeutet als Strafe Gottes oder als Folge unglücklicher Konstellationen der Gestirne – Stadt- und Landbevölkerung heimsuchten, ist durch zahlreiche Städtechroniken, besonders aus Italien belegt. So berichtet aus Florenz 1348 der Verfasser des Dekameron, Giovanni Boccaccio: „Die Auswirkung dieser Seuche war verheerend, da sie schon durch den Umgang mit einem Kranken auf die Gesunden übersprang wie das Feuer auf trockene oder feste Dinge [...]. Noch schlimmer war, dass [...] schon durch die bloße Berührung von Kleidungsstücken und Gebrauchsgegenständen, die ein Kranker benutzt oder angerührt hatte, diese entsetzliche Seuche den Berührenden zu ergreifen schien. [...] Gegen diese Erkrankung vermochte weder die Kunst der Ärzte noch die Kraft der Medizin irgendetwas auszu- richten. [...] Die Luft war angefüllt mit dem giftigen Atem der Verwesung, mit Krankenausdünstungen.“ Die sozialen Auswirkungen des Massensterbens waren dramatisch. Familien brachen auseinander, die gesellschaftliche Solidarität versank mit den Toten in Massengräbern, und die Verjüngung der Bevölkerung durch das vorwiegende Sterben der Alten führte zu einer erdrutschartigen Veränderung der Besitzverhältnisse. Ohnehin bereits Arme, Kranke, vor allemLepröse starben und entleerten Hospitäler und Leproserien. Prof. Dr. Wolfgang U. Eckart, emeritierter Professor für Geschichte und Ethik der Medizin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, beleuchtet für GRNplus einige Meilensteine der Medizin etwas genauer. Dieses Mal geht es um den Schwarzen Tod des 14. Jahrhunderts. Die Ärzte waren hilflos Erklären konnte sich damals niemand die Herkunft dieser Seuche, bei der es sich – wie neuere Befunde belegen – tatsächlich um die Pest (Yersinia pestis) handelte; und natür- lich waren auch die Ärzte hilflos. Häufig wurden nicht nur die Gestirne, das Schicksal oder Witterungen für den Ausbruch verantwortlich gemacht, sondern vor allem die jüdische Bevöl- kerung. Es kam zu schlimmsten Verfolgungen, bei denen es sich um den folgenschwersten Einschnitt in der Geschichte des europäischen Judentums vor den antisemitischen Verfol- gungen des nationalsozialistischen Holocaust handelte. Auch die machtpolitischen Rahmenbedingungen und die wirtschaftlichen Interessen einiger Bevölkerungsgruppen spielten für den Verlauf und den Umfang der Ausschreitungen eine wichtige Rolle. Bereits seit dem 11. Jahrhundert hatte es in ganz West- und Mitteleuropa mehrfach Judenverfolgungen gegeben, sodass die Judenmorde der Jahre 1347 bis 1350 nur den Höhepunkt immer wiederkehrender Vertreibungen und Ermordungen von Juden darstellten. Wie viele Menschen in den Jahren 1348–1352 der Pest erlagen, wissen wir nicht. Diskutiert aber wird ein Sterben von vielleicht 20 Millionen. Meilensteine der Medizin „do warden die iuden...mit gepürlicher peen des tods gestraft“ - Judenpogrom 1348, Schedelsche Weltchronik (1493). Besitz und Copyright: IGMEth, Universität Münster Die große Pest 1348
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